Laut, wild, unberechenbar: Das unverstandene Trauma von Kindern

"Gewalt ist ein Schrei nach Hilfe"

Schreiendes Kind

Was ist die Ursache dafür, wenn Kinder regelmäßige Ausraster haben? Dr. Andreas Krüger therapiert Jungen und Mädchen, die von der Gesellschaft aufgegeben wurden, die durchs sogenannte „Raster“ fallen und stellt bei diesen Kindern oftmals ein Trauma fest. Darin begründen sich dann auch die für Außenstehende augenscheinlich nicht nachvollziehbaren Ausraster. 

Es gibt Dinge, die vergisst man nie

Bei diesem Jungen, der Dr. Andreas Krüger damals vorstellig wurde, war es der Blick, den er nie vergessen würde. Die pure Angst in seinen Augen, wenn er aufs Fensterbrett sprang, schrie, tobte und drohte, Selbstmord zu begehen. Diese Situation spielte sich jedes Mal ab, wenn ein erwachsener Mann sein Zimmer betrat. Herausstach zudem der Hass, wenn der Junge auf andere Kinder losging. Wie im Wahn. Er war keine zehn Jahre alt. Der Hintergrund des Jungen schockierend. Sein Vater missbrauchte ihn sexuell, verprügelte, sogar scheinexekutierte ihn. Das über einen längeren Zeitraum immer wieder. Kein Therapeut war in der Lage ihm zu helfen. Selbst das renommierte Uni-Klinikum Eppendorf gab den Fall auf. So wurde er letztendlich in ein kleines Hamburger Krankenhaus überwiesen, wo ihn ein junger Assistenzarzt betreuen sollte: Andreas Krüger. Die Situation spielte sich im Jahr 1995 ab und prägte Krügers Karriere, sein Leben.

 

1995 wusste man kaum etwas über frühkindliche Traumata

In der Psychiatrie war der Bereich der frühkindlichen Traumata über Jahrzehnte lang ein schwarzer Fleck. Man glaubte, die Kinder würden das alles nicht merken, weil sie sich nicht erinnern. In der Zwischenzeit hat sich zum Glück viel getan und die Ansichten hierzu haben sich verändert. Heute gibt es sogar pränatale Psychotraumatologie. Durch Tierversuche fand man heraus, dass sich ein traumatisches Erlebnis der Mutter via Gen- Expression auf das Ungeborene überträgt. Durch medizinische Maßnahmen werden zudem oft schwere Geburtstraumata bei Kindern ausgelöst. Grund dafür können z.B. eine komplizierte Geburt mit operativen Eingriffen sein. Dann kommt es vor, dass man solche Kinder nicht berühren kann, ohne dass sie erstarren oder Schreiattacken bekommen. Das ist grauenhaft für die Eltern.

Was passiert im Kopf, wenn Kinder ausrasten?

Die Kinder erleben Flashbacks, das sind Blitzerinnerungen. Dabei wird eine Tsunami-Welle dumpfer Empfindungen freigesetzt. Den auslösenden Moment nennt man Trigger. Als Beispiel: Ein Junge, der sein Mutter mit aufgeschnittenen Pulsadern aufgefunden hat. Er sitzt vor dem Fernseher, zappt durch die Kanäle und sieht, wie sich eine Frau umbringt. Da geht bei dem im Kopf ein Horrorfilm los. Differenzierte Jugendliche erklären Dr. Andreas Krüger: „Ich weiß, dass es vorbei ist, aber in dem Moment fühlt es sich an, als würde ich alles noch mal erleben.“ Oft kommen die Flashbacks nachts, wenn es ruhig ist. Deshalb leiden die Kinder an Schlafstörungen, tagsüber können sie sich dann kaum konzentrieren und sind leicht reizbar. 

Warum sind die Flashbacks so häufig mit Gewalt verbunden? Die Gewalt wird wie durch ein inneres Notfallprogramm ausgelöst. Dadurch fühlen sich die Kinder temporär besser. Und natürlich ist die Gewalt ein Schrei nach Hilfe. Das Schlimme ist, jeder Flashback wirkt retraumatisierend. Die Empfindungen werden noch verstärkt. Dr. Andreas Krüger hatte mal einen Fall mit einem 13-Jährigen, den haben die Eltern erwischt, als er sich an seiner dreijährigen Schwester vergreifen wollte. Was war passiert? Der Junge war von einem Imbissverkäufer sexuell missbraucht worden. Eine einmalige Tat. Es kam zur Anzeige, aber dem Mann war nichts nachzuweisen. Und so musste der Junge den Täter jeden Tag wiedersehen, wenn er an dem Imbiss vorbeikam. Und jedes Mal hat er die Tat aufs Neue durchlebt, bis er sie an seiner Schwester reinszenieren wollte.

Drei Viertel der Kinder werden vor dem Schulalter traumatisiert

Studien besagen, dass über 40 Prozent der Deutschen mindestens ein schwer belastendes Kindheitserlebnis hatten. Mehr als vier Prozent der Jugendlichen haben eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt. Dazu kommen assoziierte Beeinträchtigungen wie Einkoten, Einnässen, ADHS, Depressionen, Essstörungen. Vier Prozent, das wären etwa 120 000 der 14- bis 18-Jährigen. Fast 50 Prozent der Kinder, die sich in einer Traumaambulanz einfinden, sind Opfer von häuslicher Gewalt, ein Viertel von außerhäuslicher Gewalt, ein kleiner Rest von Naturkatastrophen oder Unfällen.

Dr. Andreas Krüger behandelt Kinder, die Zwei- und Dreiwortsätze sprechen. Dazu arbeitet er viel mit Bildern. Denn klar ist, je früher eine traumatische Störung erkannt wird, desto besser. Drei Viertel der Kinder werden vor dem Schulalter traumatisiert. Und wiederum drei Viertel von denen werden erst in der frühen Pubertät, also mit zwölf, dreizehn, in einer Facheinrichtung vorstellig. Das ist leider viel zu spät. Kern des Problems ist, dass man an die bildhaften Erinnerungen irgendwann nicht mehr rankommt. Da macht das Gehirn die Tür zu, das ist wie ein Schutzreflex des Körpers. 

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